Überlegungen zur Bereicherung des Aikido-Unterrichts durch eine stärkere Beachtung des Uke-Verhaltens
Ukemi ist mehr als nur Fallen und Rollen
Ukemi wird vom Großteil der Aikido-Übenden als „Fallschule“ verstanden: als Techniken des Rollens und Fallens, um sicher, kontrolliert und möglichst unverletzt aus dem Stand zum Boden und anschließend wieder in den Stand zurück zu kommen. Egal ob rück-, vor- oder seitwärts sollen die Falltechniken so eingeübt werden, dass sie bei Bedarf reflexartig und damit ohne aktives Nachdenken und Zeitverzögerung ausgeführt werden können. Derartige Fallübungen bilden die Grundlage sämtlicher Sicherheitsmechanismen in allen Kampfkünsten und Kampfsportarten. Die Übenden lernen, wie man sich und seine Trainingspartner schützen und relativ gefahrlos miteinander trainieren kann. Insbesondere im Anfängertraining widmet man daher im Aikido einen Großteil der Zeit dem Erwerb dieser unentbehrlichen Fähigkeiten.
Dennoch neigen viele Aikidoka dazu, Ukemi auf Rück-, Vor- und Seitwärtsrollen und dem freien Fall zu beschränken. Ukemi ist in Wahrheit aber viel spannender und kann dabei helfen, das Verständnis von Hebel- und Wurftechniken zu verbessern. Nicht zuletzt erkennt man einen fortgeschrittenen Aikidoka auch am korrekten Ukemi. Erst ein gutes Ukemi lässt eine Aikidotechnik harmonisch und beeindruckend aussehen.
Was bedeutet Ukemi?
Das Wort „Ukemi“ (受け身) kommt aus dem Japanischen – und es bedeutet übersetzt nicht „Fallschule“. Es besteht aus 3 Kanji (Schriftzeichen):
受 (ju) steht für „empfangen“
け (ke) bedeutet „die“
身 (mi) ist der „Körper“
Zusammen beschreiben die Schriftzeichen also den Körper, der etwas empfängt, etwas annimmt, etwas akzeptiert.
Beim gemeinsamen Training in den Kampfkünsten, insbesondere im Judo und Aikido, nehmen die Übenden verschiedene Rollen ein: mal ist man der Verteidiger, das nächste Mal der Angreifer. Der Verteidiger wird in der Regel als Nage (der Werfende) oder als Tori (der Angegriffene), seltener als Shite (der Ausführende) bezeichnet. Ihm gegenüber steht der Angreifer, der Uke. Das Wort „Uke“ (受け) leitet sich vom Verb „ukeru“ (受ける) ab, welches mit erhalten, aber auch mit annehmen und erleiden sowie mit bewahren und retten übersetzt werden kann.
Die Aufgabe des Uke ist demnach die Rolle des Angreifers, welcher die Abwehrtechnik des Nage bzw. Tori empfängt und darauf reagiert. Ukemi beschreibt damit das Verhalten des Ukes – vom Angriff bis zur Vollendung der Falltechniken. Rollen und Fallen sind also lediglich ein Teil des Ukemi, wenn auch ein sehr wichtiger Teil.
Nage & Uke sind wie Ying & Yan
Auf dem ersten Blick sind Angreifer und Verteidiger Kontrahenten. Der Eine trachtet im Ernstfall dem Anderen nach dem Leben, welches dieser natürlich gerne behalten möchte. An Harmonie ist in dieser Kampfsituation nicht zu denken. Aber im Aikido suchen wir gerade nach dieser Harmonie.
Im Aikido betrachten wir Nage und Uke wie die zwei Seiten einer Medaille oder, um im Bild der ostasiatischen Kultur zu bleiben, wie Ying und Yang (Taiji-Symbol). Sie wirken einander entgegengesetzt, aber dennoch aufeinander und ergänzen sich. Es gibt den Einen nicht ohne den Anderen. Will man also die Techniken des Nages lernen, ist man auf den Angriff des Ukes angewiesen. Nage und Uke sind Gegensätze, die sich gleichzeitig bedingen: Aktiv und passiv, Gebend und empfangend, Yang und Yin.
Erst das Zusammenspiel von beiden lässt die Technik entstehen. Im Japanischen ergibt die Kombination der Begriffe „uke“ und „tori“ das Verb „uketoru“, welches mit „bekommen“ übersetzt werden kann und im Aikido das Prinzip der Vereinigung der Energien (Ki Musubi) umschreibt.
Im Training nehmen Aikidoka beide Rollen als Angreifer und Verteidiger in etwa gleicher Häufigkeit ein. In der Regel wechselt die Rolle nach 4 Durchgängen. So erleben die Übenden die Techniken immer aus beiden Perspektiven. Dennoch erscheinen vielen Aikidoka die Nage-Momente als die Wichtigeren, da man hier scheinbar aktiver wird. Die Uke-Momente werden dann eher als „Pausen“ betrachtet und viele „Angreifer“ scheinen dann mental regelrecht „abzuschalten“ und nicht richtig bei der Sache zu sein. Das ist sehr schade, da man als Uke mindestens genauso viel über die Technik lernen kann wie in der Nage-Rolle. Es ist Aufgabe des Lehrers immer wieder darauf hinzuweisen, dass der Angreifer seine Rolle als Uke, sein Ukemi, genauso intensiv lernen muss wie die Rolle des Nage.
Ukemi bedeutet annehmen, akzeptieren
Der Uke muss in erster Linie bereit sein, diese Rolle auch wirklich anzunehmen. Er muss akzeptieren, dass er im selben Moment, in dem er angreift, bereits „verloren“ hat. Uke greift nicht an, um zu kämpfen oder zu gewinnen. Er greift an, um dem Verteidiger die Möglichkeit zu geben, zu lernen darauf zu reagieren. Ebenso ist es nicht Aufgabe des Ukes, Nages Bemühungen zu verhindern. Vielmehr soll er dem Verteidiger durch korrektes Ukemi helfen, die Technik zu erlernen und exakt ausführen zu können.
Korrekt angreifen und present bleiben
Korrektes Ukemi beginnt mit dem korrekten Angreifen. Uke sollte sich dabei immer in Balance befinden und seinen Angriff zentriert ausführen. Bei vielen Übenden bestehen erhebliche Unsicherheiten im richtigen Angreifen, sowohl bei Fass-, wie auch bei Stoß- und Schlagangriffen, welche dann dadurch kaschiert werden sollen, in dem man sich danach steif und unbeweglich macht. Viele halten dies sogar für realistisch und verkennen, dass auch in der Realität Aktion und Reaktion stattfinden, und ein steif dastehender Angreifer jeglicher Beweglichkeit beraubt ist und dann auch nicht mehr selbst reagieren kann.
Lehrer sollten mehr Augenmerk auf das Üben korrekter Angriffe legen. Hier können bestimmte Bilder helfen, z.B. Fassen als ob eine Münze dazwischen wäre, Shomen und Yokomen Uchi in Analogie zum Schwertangriff oder beim Tsuki die zurückziehende Bewegung nicht vergessen.
Kontakt halten
Immer wieder erlebe ich es, dass Uke nach ihrem Angriff abschalten und den Kontakt zum Ziel verlieren. Ich habe dann das Gefühl, mit einem Dummy zu üben. Aber auch mancher Nage scheint nur irgendwie sein Programm abzuspulen und nicht darauf zu achten, was sein Uke tut. Die Übenden verlieren sich regelrecht aus den Augen. Das ist tödlich und hat nichts mit Kampfkunst zu tun. Beide Übenden müssen während der Technik miteinander in bewussten Kontakt stehen. Der Verteidiger muss sehen, was der Angreifer macht und umgekehrt. Es muss ein Blickkontakt da sein – nicht nur zu Beginn der Technik, sondern während des gesamten Prozesses. Bei Fassangriffen muss der Uke bestrebt sein, den Körperkontakt aufrechtzuerhalten, genauso wie Nage darauf achten sollte, die Verbindung nicht abbrechen zu lassen.
(wird fortgesetzt)