Die Ansichten über das Training mit Waffen wie dem Bokken (Holzschwert), Tanto (Messer), Jo (Holzstab) oder Tessen (Kampffächer) gehen unter den Aikidoka sehr weit auseinander. Hier gibt es das ganze Spektrum: von absoluter Ablehnung bis hin zur vollsten Zustimmung. Während die Einen aus ethischen Gründen meinen, Waffentechniken passen nicht zum friedfertigen Aikido, verweisen die Anderen darauf, dass O Sensei sein ganzes Leben lang immer mit Waffen trainiert hat. Wieder andere liegen mit ihrer Meinung irgendwo dazwischen. Für sie sind z.B. Techniken sinnvoll, bei denen dem Angreifer die Waffe abgenommen wird (Tachi Dori, Jo Dori, Tanto Dori). Im Falle des Stabes ist man auch gerne bereit, Aikido-Techniken mit der Waffe (Jo Nage) auszuüben, da diese Techniken viel über die Qualität des ausgeübten Aikidos aussagen. Kumitachi-Übungen, bei denen sich zwei mit Schwert bewaffnete Gegner gegenüberstehen, oder partnerlose Suburi (Bewegungs- bzw. Schnittübungen) sind dann schon wieder nicht jedermanns Sache. Übungen mit dem Kampffächer sind praktisch in Vergessenheit geraten.
Eigene Erfahrungen
Ich selbst stamme aus einer Aikido Organisation, bei der ein Training mit Waffen im Wesentlichen erst für die Schwarzgurte vorgesehen ist. Eine Ausnahme bildet das Tanto. Messerentwaffnungstechniken werden bei D.A.N. üblicherweise ab dem 2. Kyu geübt, da Tanto Dori Bestandteil zur Shodan-Prüfung ist. Zum Nidan werden dann Jo Dori und Jo Nage benötigt, zum Sandan Tachi Dori. Auf dem Programm des Yondan stehen u.a. eine Jo Kata, Jo versus Bokken Techniken und ein Randori mit dem Jo. Im Vergleich zu den waffenlosen Techniken wird jedoch der Umgang mit Bokken und Jo nur sehr selten geübt.
Als frischgebackener Schwarzgurt besuchte ich daher mehrere Lehrgänge von Patricia Guerri, 7. Dan. Sie war mir durch die von ihr veröffentlichten DVDs „Takemusu Aiki Bukikai“, auf denen die Waffenformen Saitos dargestellt wurden, bekannt und gab damals regelmäßige Lehrgänge in Augsburg. Patricia Guerri ist eine direkte Schülerin von Saito Sensei. Saito verlieh ihr auch die 5 Mokurokus, die traditionellen japanischen Waffendane. Patricia Guerri leitet in Frankreich einen eigenen Verband, den Aikibukikai, dem mehrere Dojos in Frankreich, Marokko und Portugal angeschossen sind. Ebenso besuchte ich mehrere Lehrgänge von Edmund Kern (1932 – 2017), 8. Dan, ebenfalls direkter Schüler von Saito Sensei. Edmund Kern kam, wie er mir im Gespräch während einer Seminarpause erzählte, ursprünglich vom Fechten und startete sein Aikido-Training im Deutschen Aikido Bund (DAB) unter Erhard Altenbrand. Damals arbeitete der DAB noch sehr eng mit Meister André Nocquet zusammen. Edmund Kern faszinierte besonders die Ergebenheit und das tiefe Verständnis Nocquets von O Senseis Aikido und er wollte so dicht wie möglich an die Quelle des Aikido gelangen. So führte ihn schließlich sein Weg zu Morihiro Saito Sensei.
Ich habe versucht, von all diesen Lehrgängen möglichst viel mitzunehmen, habe zu Hause Suburi über Suburi geübt und hatte nach einiger Zeit das Gefühl, dass sich meine Körperhaltung und das Gefühl für die richtigen Abstände verbessert hatten. Dennoch konnte ich den Suburis und Katas zum damaligen Zeitpunkt nicht viel abgewinnen. Mir erschienen die Waffentechniken auf den Lehrgängen immer recht losgelöst und ohne wirklichen Bezug zu den waffenlosen Tai-Jutsu-Einheiten. Auch bei den Übenden kam es mir immer so vor, dass sie eigentlich zwei verschiedene Kampfkünste trainierten. Bukiwaza als Selbstzweck interessierten mich nicht sonderlich. Erst die Begegnung mit Bruno Gonzalez, 6. Dan, öffnete meine Augen. Plötzlich sah ich die Schwertschnitte innerhalb der waffenlosen Techniken und verstand, dass alles Eins ist. Sensei Bruno zeigte mir, dass durch die Implementierung des Schwertes, Aikido auch ohne Kraft funktioniert. Nun verstand ich, was Edmund Kern meinte, als er sagte:
„Will man tiefer in die Struktur des Aiki eindringen, bleibt nur, sich mit den Waffen auseinander zu setzen.“
Beim Waffentraining handelt es sich eigentlich nicht um eine zusätzliche Kampfkunst neben dem waffenlosen Aikido. Das Training mit und ohne Waffen folgt den gleichen Prinzipien. Die Formen und Bewegungsabläufe sind identisch, denn die grundlegenden Bewegungen im Aikido haben ihren Ursprung im Kenjutsu. So leiten sich z.B. die Angriffe Shomen Uchi, Yokomen Uchi und Tsuki von den Schlägen bzw. Schnitten und den Stößen mit dem Schwert ab. Dementsprechend muss auch die Reaktion auf diese Angriffe ebenfalls aus dem Kenjutsu kommen.
Aiki-Ken, Aiki-Jo und Tai-Jutsu bilden eine Einheit. Dies ist eine der wesentliche Erkenntnissen O Senseis während seines Trainings im Iwama-Dojo. Wahrscheinlich war diese universelle Einsicht sogar ausschlaggebend für die Umbennung seiner Kampfkunst von „Aiki-Budo“, einer bloßen Zusammenstellung von Techniken unterschiedlicher Herkunft, in „Aikido“, welches die Synthese zur einem neuen, höheren Ganzen markiert.
Der Nutzen des Bokkens für den Aikido-Unterricht
Besseres Verständnis der Bewegungsabläufe waffenloser Techniken
Aikido wurde von O Sensei vorrangig aus den Daito-Ryu-Techniken Takedas entwickelt. Diese beruhen ihrerseits auf dem Umgang mit dem Langschwert (Daito) der Samurai. Um die Techniken wirklich in all ihrer Komplexität zu verstehenden, muss man sich folglich mit dem Bokken auseinandersetzen. Der Umgang mit dem Schwert ermöglicht es uns, diese Bewegungsabläufe besser zu verstehen.
Nobuyoshi Tamura, 8. Dan Aikikai und Uchideshi von O Sensei, erzählte im Interview mit Leo Tamaki:
„Jedes Mal, wenn O Sensei Aikido demonstrierte, benutzte er Waffen.
Es ist nicht an uns, seinen Schülern und Studenten, zu entscheiden, ob es notwendig ist, Waffen zu üben oder nicht.“
Dazu ein weiteres Zitat von Morihiro Saito, 9. Dan über den wichtigen Zusammenhang zwischen Tai-Jutsu und Bukiwaza:
„Das Aikido, das ich gelernt habe, bestand sowohl aus Tai-Jutsu als auch aus Waffentechniken. … Der Gründer … sagte, Aikido sei Tai-Jutsu, das die Schwertprinzipien beinhaltet. … In anderen Worten: Waffentechniken werden in der Form von Tai-Jutsu ausgedrückt, und befähigen mich in die Struktur eines Gegners einzudringen und ihn werfen zu können.“
Das Gefühl für Positionen, Distanzen und Timing verbessert sich
Toshiro Suga, 7. Dan, welcher seine Aikido-Laufbahn noch unter O Sensei aufnahm und unter vielen legendären Großmeistern wie Koichi Tohei, Seigo Yamaguchi, Nobuyoshi Tamura und Mitsugi Saotome trainierte, fasste die Verwandschaft von Waffen- und waffenlosem Aikido derart zusammen:
„Wenn deine Techniken nicht funktionieren,
nimm ein Bokken in die Hände und führe sie damit aus.“
Man muss dabei nicht unbedingt wirklich ein Schwert in die Hände nehmen. Häufig reicht schon die Vorstellung allein aus, die betreffenden Bewegungen mit dem Bokken auszuführen. Danach erscheint oft alles auf einmal viel leichter: Die Position, also unsere körperliche Ausrichtung zum Partner scheint zu stimmen und auch die Führung und Kontrolle bis zum Hebel oder Wurf fühlt sich richtig an.
Der Einsatz des Bokkens zwingt uns durch seine Direktheit zur Einnahme der korrekten Position. Wir lernen leichter zu verstehen, wie wir die Angriffslinie verlassen müssen und über eine neue Linie eintreten (Irimi) bzw. durch eine ausweichende Bewegung Platz für den angreifenden Partner schaffen (Tenkan) können. Plötzlich erkennen wir die Winkel zwischen Angriffslinie und eigener Position besser und verstehen, weshalb O Sensei von der Vereinigung der drei geometrischen Symbole Dreieck, Kreis und Quadrat in einem Einzigen sprach:
„Wenn das Dreieck, der Kreis und das Quadrat eins werden,
bewegen sie sich in sphärischer Rotation zusammen mit dem Ki-Fluss,
und es entsteht das Aikido, das die Klarheit der Sinne und des Körpers ist (Sumi-kiri).“
Die Partnerübungen im Aiki-Ken trainieren das stetige Ausrichten des Körpers zum Zentrum des Angreifers. Das Schwert hilft uns dabei wie ein Zeiger, uns immer wieder auf das Zentrum des Partners zu konzentrieren. Nach dem Parieren kontrolliert es die Zentrallinie des Partners und jeder Schlag oder Stich schneidet die Mitte des Angreifers. Bei den waffenlosen Techniken ist die Kontrolle der Zentrallinie des Ukes die entscheidende Zutat, um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen.
Das Arbeiten mit dem Schwert schärft zusätzlich das Gefühl für die richtige Distanz (Ma-ai) und den „wahren Augenblick“ für die eigene Bewegung (Timing). Das Auge erkennt den Beginn einer schnellen Angriffsbewegung früher. Und der Körper kann darauf durch eine geschickte Positionsänderung in einem sehr kurzen Zeitraum reagieren und den entstandenen Vorteil für den Einsatz der Waffe oder die Entwaffnung des Gegners nutzen.
Aiki-Ken verbessert die gesamte Organisation des Körpers (Bodyform)
Das Üben der Schwertformen (insbesondere der Suburi) kräftigt den gesamten Körper, besonders Schultern und Arme sowie Hüfte und Beine, was in einer deutlich aufrechteren, zentrierteren Körperhaltung zum Ausdruck kommt. Die natürliche Grundstellung wird verbessert.
Bei Ausübung der korrekten Form beginnen sämtliche Bewegungen in der Hüfte. So verbessert die Arbeit mit dem Bokken die Beweglichkeit (Flexibilität) der Hüfte und schult dabei gleichzeitig ein stabiles Gleichgewicht (Balance). Dies wiederum ermöglicht schnelle Körperdrehungen in alle Richtungen, was sehr wichtig bei der Verteidigung gegen mehrere Angreifer ist. Die Koordination aller Bewegungsabläufe wird besser.
Aiki-Ken unterstützt zusätzlich die Atmung (Kokyo), die Voraussetzung für eine energetische Präsenz ist, welche sich dann auch im waffenlosen Training gut erkennen lässt. Erst die eigene gute Bodyform erlaubt es dem Nage, sich mit den Bewegungen des Angreifers perfekt zu harmonisieren und Aiki anzuwenden.
Diese Auswirkungen der Schwertarbeit entwickeln sich nach und nach sowie Hand in Hand.
Durch das Aki-Ken lernt man, sich auf den Angreifer als Ganzes zu konzentrieren
Vor allem unerfahrene Aikidoka fixieren sich zu früh auf einen scheinbar gefährlichen Aspekt des Angriffs wie z.B. das sie angreifende Messer oder die auf sie zufliegende Faust. Sie kümmern sich darum, dieses punktuelle Problem schnell zu lösen. Dabei vergessen sie, dass hinter dem Messer oder der Faust ein Angreifer mit Zerstörungsabsicht steht, der eigentlich das wahre Problem ist. Im Training fällt das nicht so einfach auf, da unser Uke im Normalfall kein wirklicher Angreifer ist und Vieles mit sich anstellen lässt. Das Schlimmste, was beim Üben passieren kann, ist, dass sich Uke weigert, die angesagte Technik an sich ausführen zu lassen und gewissermaßen „bockt“. Im realen Leben aber würde ein Angreifer seinen Angriff fortsetzen. Deshalb ist es wichtig, zu lernen, den Gegner als Ganzes wahrzunehmen und darauf zu reagieren. Diesen Aspekt lehrt uns das Training Waffe gegen Waffe bzw. Verteidigung gegen eine Waffe.
Aki-Ken verbessert das Ukemi
Häufig wird Ukemi lediglich als „Rollen und Fallen“ verstanden, um sicher und unverletzt aus dem Stand zum Boden und anschließend wieder in den Stand zurück zu kommen. Rollen und Fallen sind aber lediglich ein Teil des Ukemi, wenn auch ein sehr wichtiger Teil. Ukemi ist in Wahrheit viel mehr: nämlich das korrekte Verhalten des Uke als Angreifer. Aiki-Ken kann uns zu richtigem Uke-Verhalten verhelfen, da im Kontakt mit dem zurückschneidenden Schwert des Nage sich die Sinnhaftigkeit des korrekten Ukemi offenbart. Regelmäßig geübte Suburi bringen uns zusätzlich dazu, effektvoll zu zuschlagen.
Aiki-Ken zeigt Fehler schneller auf
Ein Schwert verzeiht keine Fehler. Diese Erkenntnis führte in den Kenjutsu-Schulen der Samurai zur Verwendung des Holzschwertes anstelle des scharfen Katana. Dennoch ist es nicht angenehm, von einem Bokken getroffen zu werden. Unzulänglichkeiten in der Technik werden bei der Arbeit mit dem Bokken viel schneller sichtbar. Dies verhilft uns zu einer schnelleren Fehlereinsicht und -korrektur.
Aiki-Ken führt zu mühelosen Techniken
Wie oft haben wir gehört oder gelesen, dass Aikidoka die Energien des Angreifers umlenken anstatt sie zu blockieren? Soweit die Theorie. Wie oft erleben wir das genaue Gegenteil in der Praxis?
Werden die aus dem Kenjutsu stammenden Schnittbewegungen konsequent auch im Tai-Jutsu eingesetzt, sind tatsächlich mühelose Techniken möglich, die die Bewegungsenergie des Angreifers zu dessen Nachteil nutzen. Man ist nicht mehr darauf angewiesen, Hand- und andere Gelenke zu zerquetschen, damit am Ende der Uke effektvoll abklopfen muss. Eine leichte Führung genügt. Und das Beste: Die Techniken lassen sich dann dosieren. Ich kann entscheiden, sanft oder grob zu meinem Uke zu sein.
Natürlich braucht es eine Zeit der Umstellung, während der das, was sich vorher scheinbar so effektiv angefühlt hat, weniger wirkungsvoll daherkommt. Das ist aber nur die Folge einer mangelnden Bewegungserfahrung in der neuen Technikausführung. Sobald sich hier etwas Übung eingestellt hat, zahlt sich die erlebte Durststrecke aus.
Aiki-Ken kann auch allein und ohne Matte geübt werden
Da die Bewegung mit dem Bokken exakt mit der Aikido-Technik übereinstimmen, kann der Aikidoka unabhänig von Matte und Partner Aikido üben und sich verbessern.
Fazit
Wie aus dem bislang Geschriebenen hervor geht, hat die Arbeit mit dem Bokken eine große Bedeutung für das Aikido: Sie schafft Verständnis für Haltung, Bewegungsform, Abstand, Timing, Aufmerksamkeit und Präsenz, macht Unzulänglichkeiten in der Ausführung sehr viel stärker sichtbar als die waffenlose Praxis und vieles Anderes mehr.
Warum also warten wir mit dem Einsatz des Bokkens bis wir schwarz sind?
Ich bin der festen Überzeugung, dass sich durch eine frühzeitige Einbindung des Bokkens in den Anfängerunterricht (von Erwachsenen) langfristig bessere Erfolge erzielen lassen als mit der waffenfreien Methode.
Natürlich ist es nicht so einfach, den Bokken sinnvoll ins Training zu implementieren. Da besteht zunächst die Schwierigkeit, mit diesen traditionellen Übungswaffen richtig umzugehen. Da vielen Aikidoka hier die Übung fehlt, fühlen sie sich unsicher und/oder gehen an die Waffenformen mit falschen Vorstellungen heran. Ich halte persönlich auch den stark formalisierten Weg des Iwama Ryu bzw. Takemusu Aikido, welcher im nahezu stoischen Wiederholen von Suburi und Kumitachi Übungen ohne offensichtlichen Bezug zu Tai-Jutsu-Techniken nicht für sehr zielführend. Die Übenden müssen die Gemeinsamkeiten de facto sofort erkennen können und nicht erst nach Jahren des Trainings. Durch die gleichförmige Nutzung von Bokken, Shoto und Tanto kann man jederzeit von der Waffenform in die waffenlose Form übergehen und so den Schülern die im Aikido innewohnende Synthese begreiflich machen. Der Onlinekurs auf meiner Webseite soll daher als Hilfe bei der Umsetzung dieses hehren Zieles dienen.